Vogel des Jahres 2020 - die Turteltaube

Ein Bericht von Prof. Dr. Martin Kraft,
MIO - Marburger Institut für Ornithologie und Ökologie e.V.

Vogel des Jahres 2020 – die Turteltaube

Gerne erinnere ich mich an meine Kindheit und Jugend, wenn ich mit meinen Eltern und meinen drei Schwestern im wald- und heckenreichen Umfeld meines Geburtsortes Niederwalgern (Mittelhessen) „in die Himbeeren“ ging. Mit kleinen Milchkannen ausgestattet, pflückten wir im Hochsommer reife und schmackhafte Himbeeren, die später zu Saft, Gelee und Marmelade verarbeitet oder auch nur verspeist wurden. Begleitet wurde das Sammeln der Himbeeren immer mit dem wohltönenden Gesang männlicher Turteltauben (Streptopelia turtur). Dieser Balzgesang war überall und häufig zu hören und gehörte bei unseren Ausflügen immer dazu. So bin ich mit dem vom NABU und LBV ausgewählten „Vogel des Jahres 2020“ groß geworden.

Auch hatte ich einige Turteltauben immer mal wieder zur Pflege, wobei mir damals schon auffiel, dass die Männchen etwas größer und intensiver gefärbt waren, obwohl dieses so nicht in der Literatur steht, aus der Nähe aber durchaus zu erkennen ist. Die rote nackte Haut ums Auge und auch die schwarz-weißen Halsstreifen sind beim Männchen etwas intensiver gefärbt, letztere sogar manchmal bläulich schimmernd. Während die Weibchen nur etwa so groß wie eine Amsel sind, erreichen die Männchen gut 28 cm Körperlänge. Charakteristisch ist das orange-gelbe von einem roten Lidring und nackter roter Haut umgebende Auge, die rosa-bläuliche Brust, die rostfarbenen Schulterfedern und Flügeldecken mit schwarzen Zentren, etwa in der Flügelmitte befindliche graue Federn, recht spitze und dunkle Flügel mit großer Handschwingenprojektion sowie ein auffällig schwarz-weißes Schwanzmuster.

Turteltauben sind sehr schnelle und ausdauernde Flieger, die in Nordafrika, im Nahen Osten, aber hauptsächlich südlich der Sahara überwintern. Früher kehrten sie erst gegen Ende April/Anfang Mai aus ihren Winterquartieren in die Brutheimat zurück, aber in den letzten Jahren kommen die ersten Turteltauben bereits schon Mitte April zurück. Der Wegzug vollzieht sich von August bis September. Sie ziehen weitgehend nachts. Der deutsche Name Turteltaube und auch der wissenschaftliche Artname „turtur“ leitet sich vom Gesang des Männchens ab, der etwa wie „turrr-tur-turrr“ klingt. Da nicht nur Turteltauben, sondern alle Tauben recht friedfertige und liebenswerte Vögel sind, galten sie schon im Altertum als Vögel des Glücks und des Friedens. Sieht man zwei verliebte und sich küssende Menschen, sprechen wir von „Turteltäubchen“, was folgenden Grund hat: Das „Turteln“ wird ja mit dem „Anmachen, Kokettieren, Schäkern und Flirten“ gleichgesetzt, aber warum? Das kommt daher, dass die männlichen Tauben ihren Weibchen bei der Balz ihre Kropfmilch übergeben, was durch intensives Schnäbeln begleitet wird. Nun, das sieht so aus, als würden sie sich „küssen“. Da sich verliebte Menschen auch gerne leidenschaftlich küssen, wissen wir nun, warum das „Turteln“ auf die Turteltaube zurückgeht!

In den letzten Jahren nehmen die hübschen Turteltauben, die bei uns vor allem in lichten Wäldern, an Waldrändern, in Hecken, Feldgehölzen, Obstgärten und Weinbergen brüten, im Bestand extrem ab, wobei der NABU für Deutschland in den letzten 30 Jahren von etwa 90 % Bestandsabnahme ausgeht! Auch im Raum Marburg hat sich der Brutbestand drastisch verringert, selbst in Lebensräumen, die nahezu unverändert blieben. Allerdings ließen die heißen und trockenen Jahre 2018 und 2019 wieder leichte Hoffnung bei uns aufkeimen, denn es gab wieder etwas mehr Turteltauben als in den Vorjahren. Dennoch ist sie extrem selten und streng geschützt, aber in mindestens zehn EU-Ländern jagdbar. Im Mittelmeerraum und Nordafrika werden in jeder Zugsaison unzählbare Mengen geschossen, auf Malta etwa ein Drittel unseres Brutbestandes. Europaweit sind es sicherlich 2 bis 3 Millionen im Jahr, die der Jagd zum Opfer fallen! Da setzen wir uns überall für den Schutz der Turteltauben ein, indem wir wieder mehr Biodiversität und strukturreiche Lebensräume in unserer Kulturlandschaft bewahren und fördern, aber im Mittelmeerraum werden sie gnadenlos abgeschossen und verspeist. Das muss ein abruptes Ende haben. Hier müssen sehr strenge Gesetze verabschiedet werden, welche die Jagd im Mittelmeer nicht nur auf Turteltauben, sondern gänzlich verbieten. Deshalb ist es wichtig, dass die Turteltaube als Vogel des Jahres 2020 ausgewählt wurde, eine liebenswürdige und hübsche Vogelart, die selbst in der Bibel benannt wird. Leider gibt es aber auch bei uns viele Missstände im Naturschutz, denn unsere Landschaft ist vielerorts sehr eintönig geworden. Es wird nach wie vor gespritzt und gedüngt, was das Zeug hält. Wie sollen da die Vögel in der offenen Kulturlandschaft noch Nahrung finden?! Zudem verunglücken an den sinnlosen Windrädern, die unsere Landschaften verschandeln, nicht nur viele Fledermäuse und Vögel, sondern Myriaden Insekten, welche die Nahrungsbasis für viele Vögel und Fledermäuse sind.

Wir müssen uns noch viel strenger dafür einsetzen, dass Glyphosat und andere Umweltgifte europaweit verboten werden, dass mehr Blühflächen, Hecken und Feldgehölze angelegt werden, und dass diese sinnlose Jagd endlich verboten wird!

Erst dann können wir uns wieder am Gesang und Balzspiel der Turteltauben erfreuen und uns dieses liebliche Verhalten zum Vorbild nehmen!

Prof. Dr. Martin Kraft